Wieso geben VCs Millionen an deutsche E-Scooter-Startups?

Die Anzahl der Finanzierungsmeldungen von E-Scooter-Startups in Deutschland ist für deutsche Verhältnisse erstaunlich und lässt den Verdacht eines Hypes aufkommen. Welche Überlegungen verbergen sich dahinter?
Die ersten Millionen für deutsche E-Scooter
Ein kurzer Abriss der jüngsten Finanzierungsoffensiven:
- Das Berliner E-Scooter-Startup Tier hat Ende Oktober diesen Jahres eine Finanzierungsrunde über 25 Millionen Euro verkündet.
- Einen Monat später verkündet Wind Mobility, ebenfalls aus Berlin, eine Finanzierungsrunde über 22 Millionen Euro von Holtzbrinck Ventures und Source Code Capital aus China.
- Die Gerüchte mehren sich, dass ein Team rund um Lukasz Gadowski für ein E-Scooter-Startup namens Flash oder Go Flash ebenfalls Millionen einsammelt. Unter anderem von Target global. Gadowskis aktuell auf LinkedIn eingetragene Position: “CEO at TBA MOBILITY SERVICE”. Siehe dazu unter anderem deutsche startups und Ngin Mobility. Laut Quellen des Spiegels soll Go Flash sogar bereits 50 Millionen Euro eingesammelt haben.
Die Unternehmen unterscheiden sich in Details:
- Tier betreibt E-Scooter-Sharing bereits in Wien und plant den Einstieg in weitere europäische Städte.
- Wind Mobility betreibt mit Byke bereits “klassisches” Bikesharing ohne Dock in Frankfurt am Main, Berlin und dem Ruhrgebiet. Wind Mobility arbeitet außerdem für den Einstieg ins E-Scooter-Sharing an einem eigenen Scooter-Modell.
- Zum Ansatz von Go Flash ist noch nichts näheres bekannt.
Alle gemeinsam haben sie, dass sie bald in Deutschland E-Scooter-Sharing anbieten werden, wie man es bereits in den USA und anderen Ländern sehen kann:
- Tretroller mit Elektromotor, wahrscheinlich hergestellt von Ninebot, mit Ausnahme von Wind Mobility. (Ninebot baut die Scooter für die meisten Mobility-Anbieter.)
- On-Demand-Sharing über mobile App mit Niedrigstpreisen.
- Im Grunde das gleiche Modell, wie man es jetzt in den Metropolen mit Bike- und E-Bike-Sharing sehen kann, aber eben nur mit E-Scootern.
Die Gründe hinter den Millionenrunden für E-Scooter
Warum fließen jetzt Millionen Euro in diese Startups? Im Grunde ist die Antwort zweiteilig. Zunächst der profane Teil: Das Zusammenspiel aus Exit-Strategie und Timing:
Exit-Strategie:
- Die großen Ridesharing-Anbieter Uber, Lyft und Didi Chuxing werden irgendwann auch den deutschen Markt angreifen.
- Sowohl diese neuen Giganten als auch andere Mobility-Riesen, wie etwa die deutschen Automobilhersteller, werden als Offensivmaßnahme oder Defensivmaßnahme die Nummer Eins und Zwei im deutschen Markt für das On-Demand-Sharing der kleinsten Fahrzeuge übernehmen.
- Wie weiter unten unter Marktkontext ausgeführt, ist der kleinteilige Micromobility-Sektor, zu dem E-Scooter zählen, strukturell gut aufgestellt, um eine starke Säule der künftigen dominierenden Softwareplattformen im Personentransport zu werden. Der Sektor kann also durchaus auch Unternehmen hervorbringen, die langfristig börsentauglich werden können.
- Die meisten, wenn nicht gar alle VCs werden aber hier auf einen Exit an einen der großen Anbieter spekulieren, wie in den ersten zwei Punkten angedeutet; ganz nach guter, alter Samwer-Manier.
Timing:
Noch sind E-Tretroller verboten in Deutschland, weil sie bis dato in keine bestehende Kategorie passen. Für Frühjahr 2019 ist eine erste Regulierung und damit eine Zulassung der E-Scooter angekündigt. In der 40 Seiten langen Verordnung ist laut dpa aktuell unter anderem die Rede von zwei unabhängigen Bremsen, Blinkern und einer “helltönenden Glocke”. Mit der Zulassung der Fahrzeuge wird ein Wettrennen auf die deutschen Metropolen beginnen. Jetzt ist also der Zeitpunkt, sich als Startup vorzubereiten, wenn man hier mitmischen will.
Micromobility und der Markt für E-Scooter-Sharing
Und nun zum zweiten Teil der Antwort, der Markt: Der Mobility-Sektor befindet sich im Umbruch und wird künftig von großen softwarebasierten Zugängen bestimmt werden. Ridesharing à la Uber waren dafür nur der Anfang. Hierzulande gibt es, mangels Alternativen, vor allem Carsharing und seit kurzem Bike-Sharing, das in seiner dockfreien Variante die Metropolen der Welt erobert. Besonders On-Demand auf Fahrräder zugreifen können, hat einen beispiellosen Siegeszug weltweit vollzogen.
Warum ist das so? Am deutlichsten wird es, wenn man sich den folgenden Slogan verinnerlicht, der sich wie ein Virus durch die Websites von Mobility-Startups fortpflanzt: “Only walking is cheaper.” Ob Fahrrad, E-Fahrrad oder E-Scooter: Alle diese Fortbewegungsmöglichkeiten können extrem günstig angeboten werden. Dadurch und durch ihre begrenzte Reichweite setzen sie sich in den kleinen Zwischenraum zwischen Laufen und Auto/ÖPNV.
Der Analyst Horace Dediu hat diese wichtiger werdende Fahrzeugklasse unter dem Begriff “Micromobility” zusammengefasst. Seine (sinnvolle) Definition: Micromobility ist alles, was weniger als 500kg wiegt. In seinem gleichnamigen Podcast erwähnt Dediu auch, warum diese Kleinstfahrzeuge künftig so wichtig sein werden: Ihre schiere Zahl wird sie zur Vorhut der dominierenden Softwareplattformen machen.
Wie sich der Mobilitätsmarkt verschiebt

Hier das Zusammenspiel zwischen Micromobility und dem restlichen künftigen Mobilitätsmarkt in wenigen Punkten zusammengefasst:
- Online hat dasjenige Unternehmen die Marktmacht, welches den Zugang zum Endkunden innehat. (Siehe GAFA)
- Ridesharing-Anbieter wie Didi in China, Grab in Südostasien und Uber sowie Lyft in den USA sind aktuell noch die vielversprechendsten Kandidaten, um diesen Zugang zu kontrollieren.
- Um dies zu erreichen, müssen sie aber a) alle Fortbewegungsszenarien abdecken und b) die meisten Bewegungsdaten einsammeln, um das eigene System schneller optimieren zu können.
- Die kürzesten Strecken, die gerade ein bisschen zu lang zum Laufen sind aber zu kurz, um ein Taxi, einen Bus oder, außerhalb Deutschlands, ein Uber zu nehmen, werden von Fahrrädern und Scootern besetzt – diese Strecken sind kurz aber zahlreich.
- Zahlreiche Strecken und niedrige Preise bei Bikes und Scootern sorgen für zahlreiche Kundenkontakte, also Kunden und auch Bewegungsdaten. Und zwar jeweils in tendenziell größeren Dimensionen als bei Sharing-Modellen mit Autos.
- Mobility-Plattformen kommen deshalb künftig nicht ohne Micromobility-Bereich aus.
Was im Markt bereits passiert:
- Uber hat im April diesen Jahres Jump Bikes übernommen und begonnen weitere Modi wie Autovermietung und ÖPNV-Tickets in die eigene App zu integrieren.
- Im Juli investierte Uber in Lime und integrierte Limes E-Scooter in die eigene App.
- Lyft hat im Juli Lyft Bikes eingeführt und Motivate übernommen, den größten Bikesharing-Betreiber der USA.
- Didi Chuxing hat Ofos Bikesharing bereits im April 2017 in die eigene App aufgenommen. Anfang des Jahres hat Didi Chuxing verkündet, neben Ofo zusätzlich Bluegogo und einen eigenen Bikesharing-Dienst in die eigene Ridesharing-App zu integrieren.
- Auch wenn Ridesharing aufgrund des Personenbeförderungsgesetzes in Deutschland verboten ist, so kann ein Uber etwa auch über seine Jump-Bikes Fuß in Deutschland fassen.
Uber selbst hat nach der Übernahme von Jump erste Zahlen veröffentlicht, die zeigen, dass die Tripfrequenz von zumindest den ersten Nutzerkohorten durch die neue Bike-Option nach oben gegangen ist (+15%), während Trips mit Autos etwas zurückgehen (–10%). Sprich: Micromobility macht den gesamten Kuchen größer, während der Auto-Anteil zurückgeht.
Warum es ein Wettrennen auf den E-Scooter-Markt gibt
Aus all diesem erschließt sich auch, warum es hier wichtig ist, First Mover zu sein: Wer als erster mit Micromobility groß wird, bekommt niedrigschwellig viele Kunden in die eigene App und in ein neues Mobility-Paradigma. Wer die meisten Kunden hat, kann expandieren. Aus all dem folgt auch direkt, dass Übernahmekämpfe unvermeidbar werden.
E-Scooter, wie E-Bikes, haben zusätzlich gegenüber klassischen Fahrrädern den Vorteil, dass der Elektromotor längere Strecken mit weniger Aufwand überwindbar macht. Elektrifizierung hilft Micromobility grundsätzlich, ihren künftig großen Anteil an der Mobility auszuweiten; tendenziell bis zur prozentual gesehenen Dominanz. (Sprich: Die Mehrheit der Menschen wird höchstwahrscheinlich mittel- bis langfristig die Mehrheit ihrer täglichen Routen über eine Mischung aus Micromobility und ÖPNV zurücklegen.)
E-Scooter dürften das untere Ende der Micromobility-Sparte darstellen. Nach oben gehen kann man als Unternehmen immer, nach unten gehen ist dagegen oft schwieriger bis unmöglich. Deshalb sind E-Scooter trotz – oder auch gerade wegen – ihres albernen Aussehens prädestiniert für Startups. Wer von Anfang an ernst genommen werden will, will nicht gewinnen.
Es mag also auf den ersten Blick absurd erscheinen, dass Millionen Euro Risikokapital in E-Scooter-Sharing fließen. Betrachtet man aber den gesamten Kontext, setzt die Scooter also in das Mobility-Puzzle der Zukunft hinein, wird der VC-Case sehr offensichtlich. Gerade für den deutschen Markt, der heute noch geschlossen ist und morgen, wenn auch stark reguliert, geöffnet wird. Die Besonderheit auf der Regulierungsseite kann deutschen Unternehmen sogar einen Anfangsvorteil geben. 2019 werden wir sehen, ob die Wetten aufgehen.
Für eine Gesamt-Übersicht aller VC-Investments in Scooter Startups hilft folgende Infografik des Lufthansa Innovation Hub weiter:
https://lh-innovationhub.de/graphics/scooter.jpg
Am wichtigsten ist dass sie umweltfreundlich sind.