Wird Telegram das nächste Berlin-Einhorn?

02. Februar 2016 Analysen 5
Wird Telegram das nächste Berlin-Einhorn?

Mit Telegram entsteht in Berlin ein internationales Schwergewicht der Techszene, das sich dem Radar der deutschen Tech- und Venturebranche bisher recht erfolgreich entzieht. Digital kompakt unterzog den Dienst, der gut und gerne Berlins nächstes Milliarden-Unternehmen werden könnte, einer genauen Betrachtung.

Was genau ist Telegram und wer steckt dahinter?

Telegram ist ein schnell wachsender Messenger im Stile von WhatsApp, der Kommunikation über unterschiedliche Geräte hinweg ermöglicht und eine Reihe neuer Messaging-Funktionen bietet. Entwickelt wird Telegram seit 2013 von einem rund zwölfköpfigen Team um die beiden Brüdern Pavel und Nikolai Durov, zwei russische Unternehmer, die zuvor für das russische Facebook-Pendant VKontakte verantwortlich zeichneten. Insbesondere Pavel Durov, der es auf stolze 200.000 Follower auf Facebook und knapp eine Million (!) bei Twitter bringt, galt als so etwas wie der Mark Zuckerberg Russlands, ehe der Kreml begann, Internetdienste in Russland strenger zu kontrollieren und Durov aus seinem Unternehmen drängte.

Seitdem bauen die Durov-Brüder in Berlin relativ abgeschottet von der restlichen Szene Telegram zu einem weltweit agierenden Unternehmen mit hoher Reichweite auf und haben dabei das Interesse zahlreicher Geldgeber geweckt – vergebens, bisher finanziert Pavel Durov das Unternehmen komplett eigenständig und strebt bis dato keine Profite an.

Wie steht Telegram da?

Die Wachstumszahlen des Dienstes aus Berlin sind durchaus beeindruckend, wobei es scheint, als wenn die Anzahl an Nachrichten deutlicher wächst, als die der Nutzer (was Gründer Pavel Durov darauf zurückführt, dass Telegram bei seinen Bestandsnutzern immer mehr zum Primär-Messenger avanciere):

  • Anzahl Nutzer: Bei der Nutzeranzahl hält sich Telegram recht bedeckt, im März 2014 sollen es 35 Millionen monatlich Aktive gewesen sein, im September 2015 60 Millionen (bei WhatsApp sind es 800 Millionen).
  • Anzahl Messages: Das Content-Wachstum von Telegram ist ziemlich explosiv, brachte es der Dienst im August 2015 doch auf 10 Milliarden verschickte Nachrichten pro Tag, was einer Verfünffachung in gerade einmal drei Monaten entspricht, zuvor hatte eine Verdopplung fünf Monate erfordert
  • Monetarisierung: Stand jetzt ist Telegram kostenlos und werbefrei – woran sich auch nichts ändern solle; sehr wohl denkbar ist eine Monetarisierung perspektivisch jedoch über die Bot-Plattform des Dienstes, eine Schnittstelle, über die Entwickler eigene Telegram-Dienste entwickeln können und die ein App-Store für den Messenger werden könnte (dann sicher mit Gebühren)

USP: Was macht Telegram besser?

Das wohl Faszinierendste an Telegram ist, wie intelligent und einfach der Dienst die Funktionen eines Messengers erweitert. Immerhin wird so mancher Nutzer sich am Anfang fragen „Was lässt sich an einem Messenger schon groß verbessern? Man verschickt Nachrichten und fertig.“ Doch wenn man sich das Produkt anschaut, fallen neben den technischen Faktoren eine ganze Reihe smarter Features auf:

1) Produkt-Faktoren bei Telegram:

Beim Produkt bietet Telegram eine sehr ähnliche Nutzererfahrung wie WhatsApp, hat dessen Funktionalität aber noch deutlich erweitert:

  • Nutzernamen: Nutzer können einen Nutzernamen wählen anstatt ihre Telefonnummer preiszugeben
  • Dokumente: Telegram erlaubt das Versenden von Dokumenten jeder Art bis zu 1,5 GB Größe
  • Sticker: jeder Nutzer kann unterschiedliche Stickersets herunterladen und dann per Knopfdruck teilen – Telegram hebt das Versenden von Emoticons damit auf eine neue Stufe und erlaubt es, Sticker selbst zu erzeugen und zu teilen
  • Kanäle: Mit Kanälen ist es möglich, Nachrichten an eine beliebig große Followerschaft zu versenden, also beliebig viele One-to-Many-Kanäle innerhalb von Telegram – hier der Kanal von digital kompakt
  • Inline Bots: Seit Januar bietet Telegram Inline Bots, eine Art Text-Werkzeuge mit denen in Chats, Gruppen oder Kanälen Funktionen durchgeführt werden können, tippt ein Nutzer beispielsweise „@gif suchbegriff“ in die Textzeile, erhält er Gif-Vorschläge zu seinem Suchbegriff und kann diese mit einem Klick teilen, analog funktioniert dies für Bilder, YouTube-Videos, Wikipedia-Artikel usw.
  • Nachrichten zerstören: Ähnlich wie bei Snapchat können Nutzer ihre Telegram-Nachrichten mit einem Timer selbst zerstören lassen, sobald sie gelesen werden
  • Link Previews: Telegram zeigt bei versendeten Links eine Vorschau dessen, was hinter Links wartet

2) Technische und allgemeine Faktoren bei Telegram:

Zusätzlich zu diesen produktseitigen USPs besticht Telegram durch einige technische Kniffe, welcher der App ihr eigentliches virales Potenzial verleihen dürften:

  • Sicherheit: Telegram wirbt, Nachrichten zu verschlüsseln und deren  Selbstzerstörung einzuräumen, auch serverseitig verweist es auf hohe Sicherheitsstandards und ruft sogar Kopfgelder für Hacks aus, wenngleich die Cryptovorgehen des Unternehmens teilweise branchenunüblich sind
  • Cloud-basiert: Im Gegensatz zu WhatsApp, das die Inhalte eines Nutzers an seine Handynummer koppelt, funktioniert Telegram cloudbasiert, was im Klartext bedeutet, dass ein Nutzer seine Nachricht auf allen Endgeräten (Multi-Device = Computer, Tablet, Smartphone) zur Verfügung hat
  • Performanz: Ein Blick auf Telegram verrät unmittelbar, dass es bei Einrichtung und Benutzung sehr performant funktioniert, entsprechend nimmt der Dienst für sich in Anspruch, Nachrichten schneller als jede andere Anwendung auszuliefern
  • Offene APIs: Telegram bietet eine offene Schnittstelle an, sodass Entwickler eigene Telegram-Apps und -Clients entwickeln können; zusätzlich ermöglicht eine Bot API auch die Entwicklung spezieller Telegram-Tools innerhalb des Dienstes

Fazit: Auf dem Weg zum eigenen Ökosystem

Spannend ist Telegram insofern, als dass es rasant wächst und dabei einem Kurs folgt, der es zu einem eigenen Ökosystem im Mobile- und Messagingbereich machen könnte. Mit seinem Sicherheitsfokus weckt es das Interesse vieler sensibilisierter Nutzer, sein eigentlich visionärer Schritt liegt aber in der intelligenten Öffnung seines Dienstes in Verbindung mit vielen sinnvollen Produktneuerungen. Wächst Telegram weiter in diesem Tempo und schafft es, seine API-Systeme zu einem Geschäftsmodell weiterzuentwickeln, könnten die Umsätze bald durch die Decke gehen. Berlins Aufgabe muss dann sein, Telegram aus seinem elitären Enklaventum zu holen und aktiv in das hiesige Ökosystem zu integrieren.

Siehe auch: WhatsApp, Telegram & Co. – Wie monetarisiert man einen Messenger?

Bildmaterial: NickLubushko (Montage)


5 Gedanken zu “Wird Telegram das nächste Berlin-Einhorn?s”

  • 1
    Elias am Februar 10, 2016 Antworten

    10 Mrd Nachrichten pro Tag… das hieße ja im Schnitt(!) über 160 Nachrichten pro User (bei den kolportierten 60 Mio.) pro Tag. Das kommt mir doch arg viel vor. Oder die Nutzerzahl ist deutlich höher.

    Zum Vergleich: Whatsapp gab mal bei 700 Mio Nutzern an, 30 Mrd. Nachrichten zu senden. Das wären nur ein Vierter der Nachrichten pro User…

    • 2
      Joël Kaczmarek am Februar 10, 2016 Antworten

      Also ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Zum einen dürfte die Nutzerzahl einen Ticken höher sein, zum anderen gibt Telegram ja an, dass seine Nutzer besonders aktiv sind. Wenn man sich den Funktionsanfang mal anschaut, könnte das sogar stimmen. Ich kenne viele (inklusive mir), die am Anfang erstmal wie wild Sticker austauschen ;-).

  • 3
    Robert am Mai 27, 2016 Antworten

    Super Artikel, Joël, auch ich bin mittlerweile ein Telegram Nutzer und wusste gar nicht, dass dieser in Berlin entwickelt wird. Spannend wird es, wenn sich schrittweise eine kritische Masse bildet. Vielleicht wächst in Deutschland ja die skepsis gegenüber Amerikanischen Anbietern – hier könnte Telegram dann natürlich punkten.

    Auch hier möchte ich grundsätzlich die Chance nutzen, mein Lob über Digitalkompakt auszusprechen – super schlankes Design und spannende Artikel. Keep on rockin‘ !

  • 4
    norman am Dezember 3, 2016 Antworten

    Die Entkoppelung der Telefonnummer kann aber auch zu einem Spam-Missbrauch führen, so wie es bei emails der Fall ist. Das ist ja derzeit noch das angenehme an WhatsApp. Man bekommt nur Nachrichten von Menschen, die man kennt bzw. deren Nachrichten man auch bekommen möchte…

  • 5
    Berta am Dezember 27, 2019 Antworten

    Danke

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