Das Phänomen WeChat

Während sich die westliche Welt auf WhatsApp als bedeutsamsten Messenger eingeschworen hat und das Aufkommen von sichereren Alternativen wie Threema oder dem Berliner Hype-Startup Telegram intensiv verfolgt, hat sich in China mit WeChat ein echter Superlativ gebildet: Eine All-in-One-App mit riesiger Reichweite und vielen Anregungen, wohin die Reise auch im Westen gehen könnte.
Die Superlative von WeChat
Das im Chinesischen „Pinyin“ („kleine Nachricht“) genannte WeChat (Webseite) wurde 2011 durch den chinesischen Internetkonzern Tencent gegründet und blickt seitdem auf eine ganze Reihe von Superlativen:
- Nutzeranzahl: WeChat bringt es auf 650 Millionen monatlich aktive Nutzer, was in China nur durch den bereits 1998 Tencent-Messenger QQ (860 Millionen) übertroffen wird
- Internationalisierung: Außerhalb Chinas blickt WeChat noch nicht auf eine vergleichbare Bedeutung, will dies aber ändern, so soll eine Werbekampagne mit Lionel Messi im Sommer 2013 zirka 100 Millionen WeChat-Nutzer außerhalb Chinas eingebracht haben
- Nutzungsfrequenz: Mehr als die Hälfte aller WeChat-Nutzer checken die App mindestens zehnmal pro Tag, ein Viertel sogar mehr als 30 Mal am Tag
- Mobile First: in China ist WeChat quasi gleichbedeutend mit dem Internet, Online-Geschäfte starten nicht zuerst eine Webseite, sondern eröffnen als erstes ein Profil auf WeChat, täglich werden so mehr WeChat-Profile angelegt, als chinesische Webseiten registriert (!)
- Werbung: Die kommerzielle Nutzung von WeChat ist bereits weit fortgeschritten, die QR-Codes des Dienstes sind quasi allgegenwärtig (weil diese in Ländern mit ideographischen Schriften den Onlinegang erleichtern) und Marken nutzen den Dienst für unterschiedliche Marketingaktionen
- Payment: Während westliche Messenger von der Einbindung von Bezahlfunktionen nur träumen können, floriert das Payment-Geschäft auf WeChat: Zum chinesischen Neujahr haben 420 Millionen Nutzer in 8,08 Milliarden Transaktionen Geld über WeChat versendet – zum Vergleich: PayPal brachte es im gesamten Jahr 2015 auf 4,9 Milliarden Transaktionen in 2015, halb so viele wie WeChat in einer einzigen Nacht und nur 28% davon auf mobilen Endgeräten
- Profitabilität: Allein durch die Einnahmen aus Spielen und Stickerverkäufen soll WeChat bereits seit 2013 profitabel sein, dabei stammt ein Großteil der Einnahmen aus dessen Bezahldienst
WeChat längst ein mächtiges Ökosystem
Eine solche Relevanz erreicht WeChat insbesondere, weil es kein reiner Messenger mehr ist, sondern ein mobiler Native-Chat, der sich zu einem Ökosystem weiterentwickelt hat: In China funktioniert WeChat als ein Konglomerat aus Services und Schnittstellen: die App hat einen eigenen App-Store, Nutzer können nach Leuten in der Nähe suchen, Taxis, Lebensmittel oder Essen bestellen, Spiele spielen, Sticker kaufen, Restaurant- und Stromrechnungen bezahlen, Jobs suchen, Arzttermine buchen oder eigene Mobile-Stores betreiben. All dies kombiniert mit einem Content-Feed namens „Moments“ und Diensten für Firmen wie geschlossene Gruppen. Sogar über Paywalls für von Nutzern erzeugte Inhalte denkt Betreiber Tencent nach.
I had used the app several times before, so everything looked familiar. But then he said, “Watch this.” He went into settings and changed the language from English to Chinese. “Now, take another look.” The app had become five times bigger. Now, I could add my credit card. I could find a huge selection of games. I could order a taxi. I could browse take-out food. I could even apply for a mortgage and make investments. This wasn’t a chat app — this was a chat platform.
At the base of WeChat, you have chat, the killer app of mobile, connecting a vast network of people. Unlike PC-based social networks that connect people through the PCs they sometimes use, chat networks connect people through the smartphones that are almost literally part of them. With chat there is no such thing as offline.
Ted Livingston, Gründer und CEO des Messengers Kik auf Medium.com
Vor allem verfügt WeChat nicht nur über eine Reihe von Services, sondern ebenso über den dazugehörigen Content. Während westliche Apps stetig daran scheiterten, die Reibungsverluste zwischen Chatapps und externem Content zu reduzieren, bietet WeChat die gesamte Erfahrung aus einer Hand.
Ein WeChat des Westens?
Ein Blick auf WeChat lässt also erahnen, welche Kalkulationen sich für die westlichen Pendants wie WhatsApp, Facebook Messenger, Snapchat oder Telegram anstellen lassen: In China gibt es für viele Nutzer das stationäre Web praktisch nicht mehr, ihnen wird mobil alles aus einer Hand geboten und die Einführung der Bezahlfunktion hat die App für Millionen Chinesen zum Zentrum ihrer Onlineaktivitäten gemacht.
Während WhatsApp sich – evtl. aus der Sorge, Dienste von Eigentümer Facebook zu kannibalisieren – als denkbar resistent gegenüber Innovationen erweist, deutet etwa Telegram sehr wohl an, versucht zu sein, ein ähnliches System zu kreieren, in dem Nutzer zahlreiche Dienste aus einer Hand erhalten können. Ted Livingston, Gründer und CEO des Messengers Kik, geht sogar davon aus, dass Facebook das „Microsoft des Chat“ werden könne, weil es vor langer Zeit eine Mobile-first-Chat-Plattform hätte werden müssen, um die junge, mit Messengern groß werdende Zielgruppe halten zu können. In Livingstons Logik könne ein WeChat des Westens den Kampf um Nutzer, die bereits existierende Dienste nutzen, nicht gewinnen, das Rennen um die junge Generation sei derweil deutlich offener.
Und tatsächlich sprechen einige Faktoren gegen ein WeChat-Phänomen im Westen: In China haben Messaging-Apps eine weit grössere Bedeutung als im Westen, weil sie nicht bloß als billige und leistungsfähigere Alternative zur SMS fungieren, sondern sich als etwas neues und eigenständiges entwickelt haben. Vor allem gehen viele Chinesen nicht stationär sondern primär mobil ins Internet. Hinzu kommen chinesische Eigenheiten wie die virtuellen Hong Bao, eine chinesische Tradition roter Briefumschläge, in denen zu Geburtstag, Hochzeit oder Festen Geldgeschenke überreicht werden. Dennoch deutet WeChat an, in welche Richtung die WhatsApps, Snapchats und Telegrams dieser Welt tendieren könnten: hin zu Ökosystemen mit weiterem Funktionsumfang.
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